Dienstag, 21.01.20 Desi
THE CHAP
Experimental Pop, Electronica, Krautrock (London)
MIRA MANN
Bassistin und Sängerin von CANDELILLA auf Solopfaden
Einlass 20:30, Beginn 21 Uhr
Eintritt: Abendkasse: 14 €, Vorverkauf. zzgl. Gebühr: 12 €
Foto: Stephanie Piehl
In naher Zukunft, wenn Algorithmen Gefühle haben, werden sie all unsere Musik schreiben. Wenn sie versuchen, Popmusik zu schreiben, die so klingt, als wäre sie 2019 von talentierten Europäern gemacht worden, wird das vielleicht etwa wie Digital Technolog yklingen, das siebte Album von The Chap, das die Band im Lauf der letzten drei Jahre in London und Berlin aufgenommen und produziert hat.
Nach 2015’s The Show Must Go – The Chaps Erkundung des Idioms “politische Rockmusik” – ist Digital Technology wohl das bisher schönste Album der Band, das Abgründe persönlicher als auch entpersonalisierter Natur erkundet, nach innen blickt oder aber hinaus in die riesige große Leere, weniger auf eine konkrete politische Fläche.
So könnte man etwa das Schlusslied Don’t say it like that, welches seine Titelzeile immer wieder wiederholt, während sich ein Techno-Beat und einfache Synth-Arpeggios in trauriges Ambiente auflösen, aus verschiedenen Perspektiven betrachten: ein streitendes Paar, ein Erwachsener, der ein Kind tadelt, ein Social Media-Kommentar über Hate Speech. Bring your dolphin ist hingegen ein leicht surrealer und melancholischer Popsong über Delfine, Romantik und Weltschmerz, dessen Text aber auch einen versteckten Hinweis auf die Todesstrafe enthält. So lauert hinter erhabenem Ambiente die Dunkelheit, und Tonzertrümmerung birgt Spaß. Pea Shore – der erste Track des Albums, der von einem Video begleitet wird, ist schnell, aber verträumt. Im Lied heißt es “Poetry is not for me in your face”.
Jennifer Walshe, die hier Regie führte, ist bekannt als Komponistin, Performerin und Multimedia-Künstlerin – zu ihrem Oeuvre gehören Aisteach, eine fiktionale Geschichte der Avantgarde-Musik Irlands und die Oper TIME TIME TIME, eine Zusammenarbeit mit dem Philosophen Timothy Morton und MC Schmidt alias Matmos.
I am the emotion wiederum beherzigt die frühe Leitlinie von The Chap, Musik zu kreieren, die “falsch klingt”: eine Art wortreiche World-Techno-Pop-Hymne über emotionale Emanzipation, gesungen von Opa, nachdem er soeben Autotune entdeckt hat. Typisch The Chap! So auch Albtraum-Disco-Hymnen wie Merch, I recommend you do the same oder Toothless fuckface. Aber anderswo zeigt der Algorithmus eine versöhnlichere Seite: “Help mother / with her stuff”, fleht er in Help mother. Und bringt in Harddas Gefühl von Machtlosigkeit und existentieller Sinnlosigkeit auf den Punkt. Es ist unmöglich, sich nicht in Digital Technology zu verlieren. Ähnlich dem Titel klingt und fühlt sich das Album an wie ein veraltetes Versprechen, eine zeitgemäße Angst und eine sehr seltsame Zukunft – fast wie die Perspektive eines Teenagers. Wie damals, als Verwirrung und Traurigkeit noch Spaß machten.
“Deine Augen fragen: stimmt’s? Meine Augen sagen ja.” Auf Schau mir in die Augen, der Solo-Debütsingle der Münchner Musikerin und Schriftstellerin Mira Mann geht’s um den Moment des Kennenlernens, stripped down auf die unmittelbare Sinneswahrnehmung, wenn man jemanden sieht, riecht, spürt, hört, vielleicht zum ersten Mal, wenn alles noch ganz einfach und klar ist. Schau mir in die Augen ist die ironiefreie Erzählung eines ersten Kompliments, der Verletzlichkeit und des leichten Ekels, der darin liegt, aber auch der Schönheit und der Intensität dieses Moments. Es ist ein unmittelbares Liebeslied, das Jahrzehnte kultureller Dauerbeschallung romantischer Bilder und Narrative ausblendet und das Thema zwischenmenschlicher Begegnung sowohl musikalisch als auch inhaltlich auf das Notwendige herunterbricht. Es ist auch der allererste Song, der gemeinsam mit Komponist und Produzent Ludwig Abraham entstanden ist. Zusammen haben sie die Texte Mira Manns auf eine Art vertont, die irgendwo zwischen Spoken Word Performance und Geniale Dilletanten liegt.
Im Oktober 2019 erschien Mira Manns Debüt-EP Ich mag das. Auch die anderen 5 Tracks darauf zeichnen sich durch diese rohe und karge Sprache und ihre minimalistisch-percussivlastige Vertonung aus. Phantasie- und Sprachbilder schieben eine unwirkliche Ebene ein, die sich vielleicht als dirty surrealism (in Anlehnung an den nordamerikanischen Begriff des dirty realism) fassen lässt. Das ist kein Zufall, die Texte aller Lieder wurden aus Mira Manns Gedichtband Gedichte der Angst (parasitenpresse 2019) entwickelt. Dabei wurde Platz gelassen für Spontanes und Experimente, für Fehler und Unregelmäßigkeiten. Es sind Songs entstanden, die Lyrics liegen jedoch locker auf dem Beat. Der Text kommuniziert eigenständig und auf Augenhöhe mit der musikalischen Interpretation Abrahams. Ich mag das ist eine ungeschliffene Sammlung von Gefühlen und Gedanken, getrieben, suchend, fassungslos. Die Gedichte der Angst enden mit dem Satz: Ich will meine Angst nicht verstecken. Ich mag das denkt diese Haltung weiter und feiert die Kraft der Verletzlichkeit.
Mira Mann ist Bassistin und Sängerin der Band candelilla, Herausgeberin des Magazins Ultra Soft, veröffentlichte Texte in Das Wetter, Tegel Media oder der Süddeutschen Zeitung. 2019 erschien ihr Gedichtband Gedichte der Angst im Verlag parasitenpresse. Ludwig Abraham arbeitete als Komponist bisher am Staatstheater Darmstadt, dem Theater Bremen und den Münchner Kammerspielen. Als Regisseur und Komponist arbeitet Abraham außerdem für den Rundfunk und freie Theater- und Musikprojekte in Europa und Amerika. Ab Sommer 2019 ist er als Musiker Mitglied des neuen Ensembles am Schauspielhaus Zürich. Für Konzerte ist Ludwig Abraham Teil der Gruppe International Music.
Foto: Thomas Gothier