GAZELLE TWIN + THE BOILER

Freitag, 1.2.19 Kantine

GAZELLE TWIN

Industrial Pop, Avantgarde, Elektronik – ein Amalgam, in dem traditionelle Musikkonzepte in futuristischen Popstrukturen aufglühen (UK)

THE BOILER

No Wave, Elektronik, Pop-Non-Pop, Post-Industrial (Wien)

+ DJ nach Show: AMELIE

Einlass 21 Uhr, Beginn 21:30
Eintritt: Abendkasse: 15 €, Vorverkauf. zzgl. Gebühr: 13 €

In der Reihe

“Was für eine Spezies ist das denn? Und aus welchem Jahrhundert?”

GAZELLE TWIN ist Elizabeth Bernholz, Performancekünstlerin, Komponistin und Produzentin, die auf ihren Konzeptalben dystopische Themen durch ungewöhnliche elektronische Produktionen verarbeitet und ihr Werk darüber hinaus in außergewöhnlichen Live-Performances mit wechselnden Personas erweitert.

In der ländlichen Idylle von Mittleengland zusammengeschmiedet, exhumiert GAZELLE TWINS neues Album “Pastoral” Englands faulige Vergangenheit und leuchtet mit einer Fackel seine sich zunehmend verdüsternde Gegenwart aus. Zeitgenössische elektronische Musik und Avant-Pop, die an Pionierarbeit von Aphex Twin, Björk, Matthew Herbert u.v.a. anknüpft, und von der Musikpresse mit hohen Positionen für ihre Gänsehaut-Elektronik in zahlreichen Jahresalbumsbestlisten gelobt wurde, z.B. von The Quietus (da ist es gar auf Platz 1), DiS Magazine, Drowned in Sound, Uncut, The Wire u.a.

Erzählt mit Hilfe einer ganzen Schar von multi-gender Stimmen, in alten und neuen Sprachen, vom schrillen Echo des Volksliedes bis hin zu Abstechern in den Boulevardpresse-Jargon, präsentiert die Künstlerin GAZELLE TWIN die Vorstellung, dass “in jeder Idylle sich auch Horror befindet, und gleich hinter dem Anheimelnden die Gefahr lauert.” Der Dorfplatz, einst Schauplatz jahrhundertelanger öffentlicher Folterungen, wird zur floral umrankten Postkarte, aufgehübscht für das Sommerfest. Ein sonniger, nachmittäglicher Spaziergang über die Hügel verunsichert einen Schwarm wütender Fliegen, die dabei sind, nicht näher identifizierbare Überreste zu fressen. Intolerante Verbitterung murmelt sanft inmitten von Teestubengeplauder, als sich das sauber gerahmte Hirtenbild in eine feierliche Langeweile auflöst.

Vier Jahre hat die Arbeit am Album gedauert und es ist die erste große Veröffentlichung seit ihres viel beachteten Albums UNFLESH (2014). GAZELLE TWIN “The Composer, Musician and Producer” hat ein Album geschaffen, das von einem Rausch traditioneller und zeitgenössischer Musiktropen nur so vibriert: die Instrumentierungen alter Musik von Cembalo und Blockflöte gespeist mit Elektronik bis hin zur überzeugenden, rituellen Anwendung gefundener Sample-Loops. Jenseits von Bernholzs charakteristischen Chorinfusionen, die hier wie ein verzerrter Sonntagsgottesdienst klingen, gibt es sogar Anklänge von 90er-House und der einst blühenden ländlichen Rave-Szene, wenn auch in Form verwässerte Second-Hand-Erinnerungen.

Vor einer grünen Kulisse aus Hecken und Kirchtürmen konstruiert GAZELLE TWIN “The Artist and Performer”, auf die wir uns live freuen dürfen, eine exzentrische und souveräne visuelle Verkörperung all des oben genannten – ein Kostüm passend für einen Hofnarren des 21. Jahrhundert. Die Farben des Neo-Nationalismus. Cola-Dosen und GEFAHR. “Es” (nicht “sie”) deutet auf folkloristische Traditionen mit einer rührseligen Glücksbringerwendung hin. Das “Ye Olde” und “The Everyman” des englischen Klischees. Spott und ein Steckenpferd schwingend. Ein Rätsel und ein Aufnahmegerät. Hohngelächter und ein Square Dance in rot, Adidas Gazelles und ein irres, festgefrorenes Grinsen. Eine derangierte, absurde Spiegelung unserer derangierten und absurden Zeiten.

Wenn sich der Vorhang hebt und The Boiler auf ‘BODY=DEATH’ mit “Drab Light” das Bühnenlicht erhellt, liegt die Reise klar vor dem innerem Auge: Eine dunkle, urbane Straße entlang, getrieben von Beats, in denen die Geister des frühen Electro-Wave und Proto-Techno aufflackern, der Takt ein pochendes Herz, schnelle Schritte, ein Blick über die Schulter und schon erheben sich Philicorda-Orgel und Vocals zum ersten samtig-hymnischen Popmoment des Albums, dann ein Herabsinken in den mit verstörenden Noiseakzenten durchwobenen Downtempo-Track “Control”. Mit “Total Care” folgt ein fordernder, treibender Track in bester post-industrial Manier, der mit dem Fuß am Gaspedal die Vocals tief in Kopf und Glieder pusht.

Kristina Pia Hofer, als Ana Threat schon mit verschiedenen Musikprojekten bekannt, schafft hier mit Philicorda-Orgel, Tapedecks und 4-Spur-Bandmaschinen ein fokussiertes No Wave Juwel von Album.

Mit dem Namen The Boiler greift sie den seinerzeits kontrovers diskutierten Rape-Song von Rhoda Dakar mit The Special AKA auf. Wie dieser weisen die hypnotischen, repetitiven Elemente des Albums, ob Sound oder Lyrics, auf Macht und Kontrolle als beherrschendes Moment der Rape Culture.  Zusammen mit Titeln wie ‘BODY=DEATH’ – in dem das “SILENCE=DEATH” der Queer-Bewegung ACT UP anklingt – oder “Body in a bag” und dem
düster schimmernden Sound des Albums wird der Körper quasi als Wagnis, das bloße Körperlich-Werden als Todesurteil skizziert. Der Bezug zu Popgeschichte ist hier keine der Wiederbelebung, keine Nostalgie, sondern wir erleben Vergangenes im Spiel mit der Gegenwart. The Boiler reicht “The Boiler” die Hand, aber der Griff in die Vergangenheit, der auch durch die historische Instrumentenwahl besteht, versinkt auf ‘BODY=DEATH’ nicht in Retrokitsch, sondern dient dem Dialog durch die Zeit.

Ein berührendes und elektrifizierendes Album, auf dem Kristina Pia Hofer ihre sichere Hand dafür zeigt, Pop und Experiment, Trash und tiefere Auseinandersetzung in Beziehung zueinander zu setzen.

Foto: Joanna Pianka


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